Katharina erkannte alles wieder: die Silhouetten unzähliger Kirchtürme, die breite Kuppel des Petersdoms, den Skulpturenbrunnen auf der Piazza Navona, die engen Schluchten zwischen den Wohnhäusern im Colonna-Viertel. Sie hatte lange überlegt, wohin in dieser großen Stadt sie gehen würde. Ihre Reise zu Pferd war ereignislos verlaufen. Cathy hatte die meiste Zeit in ihrem Schlafsack vor Katharinas Brust geschlafen, und wenn sie wach wurde, hatte sie die vorbeiziehende Landschaft neugierig gemustert. Sie war ein friedliches Kind. Auf der Rückreise würde Katharina sie anders tragen müssen, denn für den umgebundenen Sack war sie schon jetzt fast zu groß. Sie wuchs schnell. Ihre Haare lockten sich in einem goldbraunen Ton, ganz anders als das dunkle Haar Katharinas oder ihres ersten Kindes Stjopa, den Cathy nicht mehr kennen gelernt hatte. Sie ähnelte Ignace in vielem, in der Freundlichkeit des Lächelns und der ruhigen, ausgeglichenen Art, außerdem besaß sie dessen breites, flaches Kinn. Er wäre glücklich, wenn er sehen könnte, was für eine schöne Tochter er hat, dachte Katharina jedes Mal, wenn sie Cathy beim Wickeln in die Augen sah.
Jetzt sollte Cathy also Rom besuchen. Katharina trug sie bei sich, als sie zum ersten Mal ihre Unterkunft verließ, das Gasthaus in der Via Crescenzio, dasselbe, in dem sie vor acht Jahren gewohnt hatte, als sie mit Stefano glücklich gewesen war. Nie mehr würde sie ein Kind alleinlassen, kein zweites Mal würde sie ertragen, von ihrem Kind getrennt zu werden. Der Wirt des Gasthauses erkannte sie nicht. Kein Wunder, sie sah älter und schmaler aus und trug einen anderen Namen, zudem legte sie es nicht darauf an. Katharina ging die Straße hinab und fand sie vertraut und gleichzeitig fremd, so als hätte sie ihren Blickwinkel verändert und sähe von weiter oben auf das staubige Pflaster.
Sie würde nicht zum Ordenshaus der Jesuiten gehen, das brächte zu viele Schwierigkeiten mit sich. Irgendjemand würde sich im Gespräch an die alte Sache erinnern und nach der Konföderation fragen, derentwegen sie damals um Unterstützung gebeten hatte. Welchen Grund hätte sie angeben sollen, warum sie mehr zum Schicksal der Missionare in China wissen wollte? Nichts weiter würde geschehen, als dass sie Stefano in Gefahr brachte, wenn man begriff, dass sie dieselbe polnische Gräfin war, die man schon einmal ihrer Rolle wegen verdächtigt und mit ihm in unzulässige Verbindung gebracht hatte.
Sie würde die Familie Cavallari aufsuchen. Stefano hatte Eltern und vier Brüder, die gutgestellt und in Rom geboren waren. Irgendeiner von ihnen würde zu finden sein, und dem würde sie alles aus der Nase ziehen, was es zu erfahren gab. Im Gasthaus hatte sie nach der Chinamission der Jesuiten gefragt, aber keiner interessierte sich für eine solche Sache. Wo sie die Cavallaris fand, war schon eher von Interesse. Die Comtesse möge sich auf die andere Seite des Tiber begeben, in Richtung der Villa Medici. Kurz vor deren Mauern, sagten sie, stehe ein kleiner Palazzo, der gehöre der Familie des verstorbenen Senators Cavallari.
Katharina überquerte die Tiberbrücke und spürte, dass ihre Hände feucht wurden. Das Herz klopfte spürbar. Wie sollte sie ihre Fragen begründen? Sollte sie sich offen nach Stefanos Schicksal erkundigen, sich als alte Bekannte ausgeben oder lieber einen Zufall mimen?
Der Palazzo besaß einen Eingang zwischen zwei Säulen und eine schmale Fassade aus hellem Sandstein, ein Haus, das nicht an die Pracht der Villa Medici heranreichte, weil es zwischen die Nachbargebäude eingeklemmt, aber breit genug war, dass sich hinter der Straßenfront ganze Säle verbergen konnten. Eine Weile stand sie vor der geschnitzten Tür, konnte sich aber nicht überwinden zu klopfen.
Katharina brauchte Zeit, um Mut zu sammeln. Sie fand einen Platz, wo sie einen guten Blick auf das Gebäude hatte. Von dort wollte sie es für eine Weile beobachten, um sich für eine Geschichte zu entscheiden, mit der sie bei Stefanos Familie glaubhaft blieb.
Sie nahm auf einer niedrigen Mauer im Schatten des gegenüberliegenden Wohnhauses Platz. Von hier hatte sie einen guten Blick auf den Eingang des Palazzo Cavallari. Es war später Vormittag, die Zahl der Wagen und Fußgänger auf der Straße ließ in Erwartung der Mittagshitze nach. Zur heißesten Zeit des Tages konnte die Sonne in Rom so brennen, dass einem schwarz vor Augen wurde, darum suchte man für diese Stunden besser ein ruhiges Plätzchen. Wenn es sein musste, konnte Katharina hier sitzen und abwarten, bis die Sonne wieder sank.
Eine Weile blieb es vor dem Haus still. Die Geräusche schliefen ein, die Sonne stieg in den Zenit. Katharina sah einen Mann in schlichter Kutte im Schatten der Häuser entlanggehen, den Blick auf den Palazzo gerichtet. Es war eine Kutte, wie sie die meisten Jesuiten vor acht Jahren im Ordenshaus getragen hatten. Er war ein fremder Mann, ein braunhaariger, zierlicher Mensch. Was hatte das zu bedeuten, wenn ein Jesuit die Cavallaris besuchte? Brachte er eine Botschaft von Stefano? Brachte er gute oder schlechte Nachrichten?
Katharina beugte sich gespannt vor, als ob sie dadurch die Miene des Mannes genauer erkennen könnte. Mit dieser Bewegung musste sie die Aufmerksamkeit des Jesuiten erregt haben; er wandte den Kopf und fing ihren Blick ein. Offensichtlich hatte er vorgehabt, an die Tür zu klopfen. Jetzt hielt er inne, zögerte einen Moment und überquerte die Straße.
Katharinas Herz klopfte stark. Wollte er schimpfen, dass sie den Palazzo beobachtete? Wusste er irgendetwas? Sie hielt dem Atem an.
Er hielt direkt auf sie zu. Katharina drückte Cathy an sich und wich in den Schatten zurück, aber die Mauer, auf der sie saß, ließ nicht zu, dass sie weit kam.
»Verzeiht, Signora, ich habe Euren Blick bemerkt; er schien mir nicht nur Neugier zu bedeuten. Hattet Ihr vor, an dieselbe Tür zu klopfen wie ich?«
Katharina errötete. »Steht das in meinem Gesicht geschrieben?«
Er lächelte. »Signora, wer so lange in China gelebt hat wie ich, ist geübt darin, die kleinste Regung zu lesen. Die Chinesen geizen mit der Preisgabe ihrer Emotionen.«
»Ihr wart in China?« Katharinas Herz schlug heftig. »Wisst Ihr etwas über einen anderen Jesuiten, der auch dort war? Man nennt ihn Bruder Simone.«
»Natürlich. Wir waren zusammen dort.«
»Ist er… Ich muss unbedingt wissen… Lebt er? Geht es ihm gut?«
Er sah sie mit einem seltsam schrägen Blick an, der sie zu durchdringen schien. Statt zu antworten, fragte er: »Ist Euer Name vielleicht Katharina?«